Vom Berliner für Berliner
Die Brauerei Lemke gibt der Hauptstadt Ihre Bier-Identität zurück
Vor 120 Jahren war Berlin der Bier-Nabel der Welt. Von Klein- und Kleinstbetrieben bis zu modernsten industriellen Großbrauereien reichte die Palette. Deutsches Bier genoß auch international den größten Ruhm. Beispielsweise gewann eine deutsche Brauerei die Bier-Goldmedaille auf der Weltausstellung in Philadelphia 1876. Von diesem Glanz war 1990 zur Wendezeit nicht mehr viel übrig. Am Ende stand nur noch eine Großbrauerei für Bier aus der Hauptstadt. Das war dann schließlich selbst den Berlinern zu dumm: Denn nun mussten die zuvor von ihrer jeweiligen Stadtteilbrauerei begeisterten Biertrinker erleben, dass alle Biere aus derselben Produktionsstätte kamen. Im Ergebnis machten sich süddeutsche Brauereien in der Hauptstadt breit, und das eigentlich heimische Bier galt vielen als „no go“. Hier machte sich Oliver Lemke auf, nach seinem Brauer-Studium an der VLB und einigen Auslandsjahren, Berlin seine Bier-Identität zurückzugeben. Heute betreibt er drei Brauereien und eine Kneipe, fasziniert mit hervorragenden klassischen Bierstilen vom Wiener Lager bis zum IPA und wagt sich neuerdings sogar an die Wiedergeburt einer professionellen Berliner Weissen. Das Lemke-Bier gehört auch zu den Seriensiegern bei internationalen Wettbewerben: European Beer Star, Brussels Beer Challenge, Meininger International Award und World Beer Award, um nur einige zu nennen. Fazit: An Lemke kommen Bier- und Berlin-Fans nicht vorbei!
Angefangen hat Oliver Lemke ganz klassisch, in einer Garage. Dort zimmerte er mit einem Freund seine erste 200-Liter-Brauerei zusammen, die dann im November 1999 das Herzstück für das erste „Brauhaus Lemke“ unter den S-Bahnbögen am Hackeschen Markt bildete. Über 50 verschiedene Biere braute der Berliner im ersten halben Jahr – zu viel für die damals noch ganz klassisch ausgerichteten Berliner Kehlen. Ebenso wie das nicht minder innovative Essenskonzept: Mitten im Brauhaus stand ein großer Grill, auf dem die Köche Yakitori-Spieße nach japanischem Vorbild zubereiteten. Heute wäre das hip, damals hatte der Laden keine Chance gegen Mainstream-Pils, Buletten und Sauerkraut. Also zog Lemke kurz vor der Pleite die Notbremse und passte sich an: Hell, Dunkel, Weizen, Eisbein und Currywurst bestimmten das Angebot der Gasthausbrauerei. Und der Laden brummte. So gut, dass bald Kapazitäten anderer Brauereien genutzt werden mussten, um den Durst der Gäste zu stillen. Der Bedarf steigerte sich noch mehr, als Oli 2003 sein Lieblingslokal aus Studentenzeiten übernehmen konnte, die „Tiergartenquelle“.
In dieser Bier-Not half dem cleveren Brauer der Zufall. Denn das 1993 eröffnete „Alexanderbräu“, zwischenzeitlich „Leopolds Brauhaus“, unweit des Hackeschen Marktes gelegen, ging in die Insolvenz. Lemke schlug zu, eröffnete 2004 mit dem „Brauhaus Mitte“ seine zweite Brauerei und hatte – was am wichtigsten war – eine 15hl-Anlage nebst Lagerkapazitäten dazugewonnen. Danke einer guten Idee und Lemkes Ingenieurkünsten verband der Brauer seine beiden Brauereien mit einer über 100 Meter langen Bierleitung vom Alexanderplatz zum Brauhaus Lemke – die Versorgung der durstigen Berliner war sichergestellt. Doch die Erfolgsgeschichte sollte weitergehen. 2007 musst auch das „Luisenbräu“ in Charlottenburg seine Pforten schließen. Hier hatte Lemke mehr als zehn Jahre zuvor einst ein Praktikum absolviert und kannte den Betrieb. Nach einem Hilferuf des Hauseigentümers zog Oli seine Gummistiefel an und bewahrte die Hals über Kopf verlassene Brauerei vor dem kompletten Verfall. Diese Tat hatte der Vermieter noch im Kopf, als es um die Nachfolge ging, und so bekam Lemke den Zuschlag, hier sein „Brauhaus Lemke am Schloss“ zu eröffnen.
Damit war Lemke nach der großen Berliner Kindl-Schultheiss-Brauerei zur Nummer zwei in der Hauptstadt aufgestiegen, allerdings mit gigantischem Abstand. Eine Auslandsreise zum New Bern Bierfestival brachte den Berliner 2010 erneut zum Nachdenken. Denn überall in den USA erlebte er den Craft Beer Boom und fühlte sich an seine Anfangsjahre erinnert, wo es am Hackeschen Markt schon 1999 IPA, Stout und Hopfenbomben zu verkosten gab. Zurück in Deutschland arbeitete es in ihm weiter, und er beschloss, dem Thema „Craft Beer“ eine zweite, neue Chance zu geben – in seiner Brauerei. Also stellte der Brauer seine Palette um und vergrößerte sie um neue Bierstile. Neben Bohemian Pilsener, Weizen und Wiener Lager (Original) flossen nun auch Pale Ale, IPA, Imperial IPA, Hopfenweisse und Imperial Stout aus den Zapfhähnen, ergänzt um wechselnde Saisonbiere und Collaboration Brews. Parallel änderte sich auch das kulinarische Angebot, Flammkuchen, Burger und Steaks ergänzten die Speisekarte.
Und tatsächlich, mittlerweile war auch die Hauptstadt beim Thema „Bier-Innovationen“ angekommen, die Sache funktionierte. Lemke schaffte es wie kaum ein anderer Brauer in Deutschland, ein Treffpunkt sowohl für die klassischen Bierfreunde, als auch für die Craft-Beer-Nerds zu werden. Hier holten sich viele der später folgenden neuen Brauereien im ganzen Land ihre Inspirationen und profitierten so von dem reichen Erfahrungsschatz des Berliners. Besonders sichtbar ist Lemkes Vorreiter-Rolle im 2016/17 neu eröffneten „Lemke am Alex“, dem ehemaligen Brauhaus Mitte. Hier wird Bier gelebt und geliebt, nicht zuletzt in der „Barrel Lounge“, wo es echte fassgereifte Raritäten mit fast dreistelligen Flaschenpreisen zu verkosten gilt. Seit 2016 gibt es die Lemke-Biere zudem auch in der Flasche – wieder, denn 1999 hatte Lemke kurzzeitig schon einmal Flaschenbier im Angebot.
Was die Zukunft angeht, arbeitet das „Team Lemke“, wie sich die Mitarbeiter verstehen, vor allem an zwei Projekten: Gastronomisch soll es eine Verbindung zwischen „Lemke am Alex“ und „Lemke am Hackeschen Markt“ geben – eine 200 Meter lange Bierflaniermeile im Rücken der S-Bahnbögen mit wunderschönem Außenbereich. Und im eigenen Labor arbeitet Lemke mit seinem Braumeisterteam an der Wiederentdeckung der Berliner Weissen. Was vor einigen Jahren mit einem Projekt in Zusammenarbeit mit der VLB begonnen hat, ist nun kurz vor dem Abschluss angekommen. Die Lemke-Weisse wird dabei – im Gegensatz zur Weissen aus der Kindl-Brauerei – wie früher üblich mit zahlreichen verschiedenen Hefen und Bakterien vergoren. Außerdem wird Lemke neben einer klassischen Variante auch eine Weisse mit leichtem Holzfass-Aroma anbieten. Schließlich muss so das Vorbild von vor 120 Jahren geschmeckt haben – wir freuen uns drauf!