Der Alkoholkonsum gehörte seit Beginn der Industrialisierung zum Alltag der Menschen und war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine der Ursachen für die Mäßigungs- und Prohibitionsbewegungen in allen aufstrebenden Industriestaaten. Auch wenn um 1914 die negativen Auswirkungen der Trunkenheit auf die Produktivität durchaus bekannt waren und betrunkene Arbeiter durchaus auch ihren Job riskierten, war die „Pulle“ dennoch an der Tagesordnung. Zwischen den Arbeits-Schichten gab es staatlich genehmigte „Drinking Sessions“ von 11-15 und 19-23 Uhr. Zu diesen Zeiten durften die Arbeiter in den Pubs Alkohol trinken, ohne Strafen fürchten zu müssen.
Für die Arbeiter hatte der Alkoholkonsum nicht nur den „narkotischen“ Effekt, also die notwendige Berauschung, um den harten Arbeitsalltag und die nicht minder einfachen Umstände in den Behausungen der Familien zu bewältigen. Bier stillte schlicht und einfach auch den Durst in den heißen und stickigen Industriehallen, und die im Alkohol enthaltenen Kalorien gaben Kraft für die langen Schichten.
Gerade in den kriegswichtigen Betrieben, wie beispielsweise den Munitionsfabriken, kam es allerdings auf sorgfältige Produktion und Ausdauer der Arbeiterschaft an. Also entwickelten die Brauereien speziell für die „Drinking Sessions“ gemachte Biere mit einem Alkoholgehalt von maximal 4 %. Von diesen sollte „Mann“ innerhalb der vierstündigen Sessions zwischen 4 und 8 Pints trinken können, ohne seine Arbeitsfähigkeit zu verlieren. So konnte man den Bierdurst der Arbeiter mit den Notwendigkeiten der Industrieproduktion unter einen Hut bringen. Insgesamt sank die konsumierte Menge Alkohol in der Bevölkerung für die nächsten 50 Jahre deutlich ab. Erst 1960 wurden wieder die Werte aus den Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg erreicht. Die Regelung der „Drinking Sessions“ blieb bis zum „Liquor Licensing Act“ 1988 in Kraft.
Nachdem die Craft-Beer-Bewegung in ihren Anfangsjahren vor allem aromatische Extreme gesucht hatte – ohne Rücksicht auf den Alkoholgehalt der Biere bzw. sogar mit dem Willen, auch in dieser Kategorie möglichst stark zu sein, entdecken viele Brauereien mittlerweile die „leichteren“ Biere für sich. Denn gerade die „Hop Heads“ der ersten Generation sind mittlerweile 20 Jahre älter und haben andere Bedürfnisse in ihrem Trinkverhalten. Aber natürlich möchte die „Craft-Welt“ nicht an das ursprüngliche Feindbild die „Near-Water-Biere“ wie „Bud light“ anknüpfen, sondern gerade in der Aromatik auch mit weniger Alkohol viel bieten können. Ein „Weniger“ an Alkohol bedeutet nämlich nicht automatisch einen Verlust von Aroma. Denn insbesondere mit Aromahopfen ist es möglich, hocharomatische alkoholreduzierte Biere herzustellen, man denke nur an das ü.NN / Le Chauffeur FreIPA der Brauereien Kehrwieder und Nittenauer, das als geschmackvolles IPA lediglich 0,4% Alkohol enthält.
In den modernen Definitionen und bei Bier-Wettbewerben sprechen die meisten Experten und Regularien davon, dass „Session“ Biere nicht mehr als 4-5% Alkohol enthalten sollten. Denn physiologisch ist dieser Alkoholgehalt eines Getränks für die meisten Menschen auf der Welt die Grenze, bis zu der ein länger anhaltendes Trinken ohne zu schnelle „Ausfallerscheinungen“ durch die zunehmende Alkoholisierung möglich ist. Die Regeln des „World Beer Cup“ beispielsweise kennen mittlerweile zwei „Session“-Kategorien, Session Beer und Session IPA, während das BJCP (BEER JUDGE CERTIFICATION PROGRAM ) „Session“ hingegen als „Alkoholgehalt von unter 4%“ interpretiert und damit als Option innerhalb der meisten definierten Bierstile.
Autor: Markus Raupach
Fotograf, Journalist, Bier- und Edelbrandsommelier
Ausgezeichnet mit der Goldenen Bieridee 2015
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