Mit dem Beginn der industriellen Revolution sollte sich das allerdings bald ändern. Eine entscheidende Rolle spielte die Familie Dreher aus Wien, die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts eine Brauerei in der Hauptstadt betrieb. Deren bekanntester Vertreter, Anton Dreher, absolvierte um 1830 Hospitanzen in verschiedenen Münchner Brauereien, wo er auf Gabriel Sedlmayr von der Spaten-Brauerei traf. Die beiden entwickelten eine enge Freundschaft und auch geschäftliche Zusammenarbeit. So unternahmen sie unter anderem gemeinsam eine England-Reise, um die damals wesentlich fortgeschritteneren Mälzereien und Brauereien der Insel zu inspizieren. Sie dürften auch das wirtschaftliche Potential der untergärigen Hefen entdeckt haben, mit denen die weiß-blauen Brauer zu dieser Zeit schon seit Jahrhunderten arbeiteten. Sedlmayer machte daraus 1841 in München das erste Oktoberfestbier und Dreher im selben Jahr in Wien das Wiener Lager. Beide Bierstile hatten großen Erfolg, und so ist es wahrscheinlich, dass über die Dreher-Brauerei die bayerische Hefe 1842 nach Pilsen gelangte, um dort in den Händen des Bayern Josef Groll ein bieriges Erdbeben auszulösen. Die Entwicklung in Bayern lässt sich in den Artikel zum Hellen und Dunklen weiterlesen, die in Pilsen in dem Text zum Pilsner Bier. Wir verfolgen noch ein bisschen die Entwicklung im Vielvölkerstaat:
Anton Dreher braute im Frühjahr und lagerte das Bier während des Sommers in seinen tiefen Kellern. Er steigerte seinen Umsatz in kürzester Zeit um das Dreißigfache und expandierte weiter in der Doppelmonarchie. Brauereien im böhmischen Michalovce und in Budapest kamen zu der Wiener Muttergesellschaft hinzu. Während in Deutschland die Popularität des Pilsner Bierstiles die der restlichen Bierlandschaft in kürzester Zeit überflügelte und das Münchner Dunkel eine bayerische Besonderheit blieb, vertrauten die Österreicher und Ungarn neben dem neuen hellen Bier auch Drehers Wiener Lager. Ein Vorteil seines Bieres war, dass das Wiener Malz im Gegensatz zu den für Pilsner genutzten hellen Malzen eine natürliche Säure enthielt, die es möglich machte, auch mit dem im Verhältnis zum Pilsner Wasser wesentlich härteren und alkalischerem Wasser der Alpenregion ein richtig gutes Bier zu brauen. Eine Errungenschaft, die sich später die fränkischen Brauer zu nutze machten, um selbst qualitativ hochwertige untergärige Braunbiere herstellen und damit in Konkurrenz zu den Münchner Dunkelbieren treten zu können. Der Grundstoff für Drehers Wiener Malz war allerdings derselbe wie für das Pilsner Malz: Die zweireihige Gerste aus Böhmen und Mähren.
Weder Sedlmayr, noch Dreher gefiel der Umstand, dass das untergärige Brauen wegen der zu hohen Temperaturen nicht ganzjährig möglich war. Also sponserten sie die Entwicklung der künstlichen Kühlung Carl von Lindes. Um das Verfahren im großen Stil ausprobieren zu können, kaufte Dreher 1868 eine Brauerei im italienischsprachigen Teil des Habsburgerreiches, in Trieste. Die Stadt hatte einen – gelinde gesagt – verheerenden Ruf, was ihr Bier anging, und so erschien es der gesamten Fachwelt unmöglich, dass gerade dort etwas Trinkbares entstehen sollte. Im September 1876 lieferte Linde den Prototyp, der im folgenden Frühjahr in Betrieb ging und bis 1908 seinen Dienst tun sollte. Die Triester Brauerei erlebte eine ungeahnte Blüte, und Dreher wie Sedlmayr rüsteten ihre anderen Brauereien mit der neuen Technologie aus.
Anfang des 20. Jahrhunderts verdrängte das Export nach Dortmunder Brauart nach und nach das Wiener Lager, da es in den Augen der Verbraucher die bessere Alternative zum hopfenbetonten Pilsner war. Schließlich galten helle Biere seit der Verwendung des Bierglases als schick. Dieser Trend setzt sich bis in die heutige Zeit fort, wo in Österreich – und auch der Schweiz – helle Biere mit großem Abstand den Biermarkt dominieren. Zudem schnitten die neuen Grenzen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges die in Österreich verbliebenen Brauereien vom Nachschub der böhmisch-mährischen Gerste ab, was die Qualität des Malzes deutlich negativ beeinflusste. Die politischen Umbrüche seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten zudem für eine große Welle der Auswanderung aus den beiden deutschsprachigen Kaiserreichen in die Neue Welt nach Amerika gesorgt, der sich auch viele gut ausgebildete Brauer anschlossen. Sie landeten vor allem in Texas und Mexiko – schließlich waren die USA bereits von zahlreichen Brauereien in deutscher Tradition besetzt – und ließen dort die Tradition des Wiener Lagers wieder aufleben.
Im erst 1845 von den USA annektierten Texas gründeten die Deutschen und Österreicher Siedlungen wie Fredericksburg (1846), New Braunfels (1845) oder Pflugerville (1849), während tschechischsprachige Emigranten beispielsweise eine Stadt namens Praha (1854) aus der Taufe hoben. Während die Brauunternehmen der ersten Einwanderer wegen der ungünstigen Temperaturen nur von kurzfristigem Erfolg gezeichnet waren, hatten ihre Nachfolger ab 1890 die künstliche Kühlung im Gepäck. Die Bierproduktion von Texas stieg von 14.000 Barrels im Jahr 1879 auf über 400.000 Barrels in 1902. Bis zum Ersten Weltkrieg sprachen im zentraltexanischen Texas Hill Country über 100.000 Einwohner deutsch. Neben den Brauereien in dieser speziellen Region spielte übrigens auch Lone Star Brewing in San Antonio eine große Rolle im texanischen Bier, der eine längere Zeit ein gewisser Adolphus Busch vorstand…
Die Entwicklung in Mexiko war ähnlich. Hier konzentrierte sich die eingewanderte Brauer-Gemeinde rund um Mexiko-City. 1875 startete Santiago Graf, ebenfalls aus Österreich eingewandert, eine obergärige Brauerei in Toluca, etwas südwestlich der Hauptstadt. Graf hatte die Erfolge von Dreher und Sedlmayr mit der untergärigen Hefe verfolgt, konnte sie zwar wegen der mittelamerikanischen Hitze nicht selbst verwenden, aber schaffte es dennoch, mit besonders sorgfältiger Gärführung das erste industriell hergestellte und transportfähige Bier des Landes zu etablieren. 1882 kaufte er eine Eismaschine aus Deutschland und stellte als erster Brauer Mexikos auf untergäriges Bier um. Der Erfolg war immens. In zeitgenössischer Literatur stand zu lesen, dass Grafs Bier „die ausländischen Biere komplett aus dem Markt warf“. Mit einer Kapazität von über 100.000 Barrels hatte der Exil-Österreicher keine kleine Brauerei für die damalige Zeit, und er wurde zum Vorbild für die nachfolgenden Brauereigründungen in ganz Mittel- und Südamerika. Hopfen und Malz bezog Santiago Graf konsequent aus der alten Heimat, wie es auch heute noch zwischen Mexiko und Kap Hoorn bei vielen Brauern üblich ist. Die Prohibition in den USA – und damit auch in Texas, sowie der „Pan-Amerikanismus“ nach dem Zweiten Weltkrieg in Südamerika setzten dieser zweiten Blüte des Wiener Lagers ein jähes Ende, bevor die Craft-Brewer in den USA ab 1980 den Bierstil wieder für sich entdeckten.
Autor: Markus Raupach
Fotograf, Journalist, Bier- und Edelbrandsommelier
Ausgezeichnet mit der Goldenen Bieridee 2015
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