Doch zuerst kurz zur Sensorik: Wenn die Berliner Weisse klassisch, das heißt ohne die Zugabe irgendwelchen Sirups genossen wird, bietet sie eine erfrischende Säurenote mit feinperliger Kohlensäure. Die an die ursprüngliche leichte Weisse angelehnten Vertreter mit 2,5-4% Alkohol bieten dabei immer noch eine süßliche Note und nur dezente Sauernoten, die an Apfelmost erinnern. Stärkere Varianten bis hin zu Craft-Experimenten können eine wesentlich intensivere Säure bieten. Besonders spannend sind gereifte Berliner Weissen, die bereits mehrere Jahre auf dem Buckel haben. Hier entwickelt sich eine besonders runde Säurenote, die mit den besten Weinen mithalten kann. Grundsätzlich unterscheidet man Berliner Weissen, die unter Verwendung wilder Hefen (Stichwort Brettanomyces) vergoren wurden (wie beispielsweise die Biere der Meierei in Potsdam oder von Schneeeule) und diejenigen, die mit Milchsäurebakterien gesäuert wurden. Bei ersteren sind die Anklänge an Apfel- und Birnenmost stärker, und die Säurenoten sind komplex in ein Aromenbett eingebunden. Letztere hingegen zeigen eine klare Sauernote, die die anderen Aromen dominiert.
Bekannte Weißbiere des 16. Jahrhunderts kamen z.B. aus Hamburg, Magdeburg, Goslar, Hannover und Lübeck. Berlin und Cölln hatten sich schon bald nach ihrer Gründung zu einer ansehnlichen mittelalterlichen Kleinstadt, seit 1307 mit gemeinsamem Rathaus, entwickelt. Ein wichtiges Exportgut war Getreide. Mönche und Handwerker siedelten sich an, womit schon Ende des 13. Jahrhunderts die Voraussetzungen für die Entwicklung einer eigenen Braukunst gegeben waren. Aus dem Jahr 1648 ist die stolze Zahl von 250 Braustätten überliefert. Ab 1685 kamen die aus Frankreich vertriebenen Hugenotten nach Berlin, die zusätzliche Brauereien gründeten. 1770 waren es 289 Berliner Braustätten, von denen 30 Weißbier brauten. Als Napoleons Truppen wenige Jahrzehnte später in Berlin einmarschierten, entdeckten sie den „Champagner des Nordens“ für sich. Danach wurde die Zahl der Brauereien wieder kleiner, bis es nach der Reichsgründung 1871 zu einem erneuten, von der zunehmenden Industrialisierung und den französischen Reparationen unterstützten Aufschwung des Brauwesens kam. Berlin wurde zu einer der größten Städte der Welt. 1892 gab es 77 Braustätten (24 Weißbierbrauereien), 1903 dann 124 (20). Und auch der Durst der Berliner nahm beachtliche Ausmaße an. 1730 tranken sie pro Kopf 370 Liter Bier, 1898 206 Liter und 1976 immerhin noch 125 Liter.
Der Stern des Berliner Weißbieres sank aus zwei Gründen: Erstens war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die „bayerische“ – untergärige – Brauweise auf dem Vormarsch. Das neue Bier galt zu Recht als einfacher und billiger herzustellen, sowie qualitativ stabiler. Zweitens war die Berliner Weiße ein typisches Vergnügen des gesetzten Bürgertums der Biedermeierzeit. Der Anteil der Fabrikarbeiter nahm mit der Industrialisierung immer mehr zu, die – nicht zuletzt während der Arbeit – gerne auf leicht verfügbares (untergäriges) Flaschenbier zurückgriffen. Dennoch konnte sich das typische Berliner Getränk bis zur Jahrhundertwende halten, danach kam Stück für Stück das Aus für Weißbierstuben wie „Päpkes Jeheimratskneipe“ (Jerusalemer Straße), „Clausings Weißbiermekka“ (Zimmerstraße) oder „Haases Weißbierstuben“ (Französische Straße). Den „Nußbaum“ im Nikolaiviertel gibt es heute noch bzw. wieder. Nur Kindl/Schultheiss im Westen und die Willner-Brauerei im Osten hielten anschließend die Tradition aufrecht, letztere aber nur bis in die 1980er Jahre. Einige Brauer des neuen Jahrtausends schicken sich nun allerdings an, diese fast vergessene Tradition wiederzubeleben: Pionier Andreas Bogk und die VLB, nur kurz darauf „Brewbaker“ Michael Schwab, vor wenigen Jahren dann „Schneeeule“ Ulrike Genz und BRLO und bald das Brauhaus Lemke. Mit der „Weissen“ aus der Meierei in Potsdam gibt es auch schon seit Längerem ein echtes Referenzprodukt von außerhalb der Hauptstadt.
Doch was macht die „Berliner Weiße“ nun aus? Hier macht es erst Sinn, diesen Bierstil in seiner klassischen, klar definierten Form aus dem 19. Jahrhundert zu betrachten. Kurz gedarrtes Malz sorgte für den festen Schaum, der Hopfen (0,75 bis 1 kg/100 kg Malz) wurde bereits während des Einmaischens zugegeben, die Würze nicht gekocht und mit 72,5°C auf das Kühlschiff gegeben. Man dachte, dass dadurch ein großer Teil der im Malz (Weizen- und Gerstenmalz im Verhältnis 4:1 bis 1:1) enthaltenen Mikroorganismen den Brauprozess überleben könnten. Anschließend gaben die Brauer obergärige Bierhefe und Milchsäurebakterien, in etwa im Verhältnis 5:1, dazu, bewusst oder unbewusst auch andere Hefestämme. Vergoren wurde sechs Tage bei 14 bis 18°C, wobei sich nach zwei Tagen der typische Hefeschaumteppich auf dem Bier und insgesamt der Hauptteil der Säure bildete. Nun kam das Bier in Flaschen, wo es leicht nachgärte und mindestens 14 Tage lagern musste. Bierliebhaber ließen die Flaschen allerdings sechs Monate und deutlich länger lagern, um den vollendeten Geschmack genießen zu können. Die Stammwürze lag bei 7 bis 8%, der Alkoholgehalt um 2,5 bis 3%. Wissenschaftliche Studien ergaben, dass die Bakterien aus dem Malz nur zu einem geringen Teil verantwortlich für die Qualität der Weiße waren, vielmehr das verwendete Hefegemisch und das in der jeweiligen Brauerei vorhandene sonstige mikrobiologische Klima. Zu den wichtigen Wildhefekulturen gehörten vor allem verschiedene Stämme der Brettanomyces-Hefe, die in der Flasche den restlichen Zucker unter Säure- und Esterbildung verarbeiteten.
Als Weißbier-Glas setzte sich neben verschiedenen Pokal-Varianten vor allem das „Klauenglas“ durch, ein einfacher Zylinder, den man mit beiden Händen, den „Klauen“, anfassen musste und den es auch in größerer Form für eine „Doppelweiße“ gab. Beliebt war auch die „Rundenweiße“. Ein Klauenglas stand in der Tischmitte, und jeder in der Runde trank abwechselnd daraus. Die Mischung mit anderen Getränken bildete sich erst spät heraus. Neben der Variante mit Waldmeister- oder Himbeersirup kenne die Berliner auch die „Weiße mit Strippe“, also mit Kümmellikör und oft einigen Orangenscheiben. Echte Weiße-Fans bevorzugen allerdings den puren Genuss.
Autor: Markus Raupach
Fotograf, Journalist, Bier- und Edelbrandsommelier
Ausgezeichnet mit der Goldenen Bieridee 2015
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