Bis ins 19. Jahrhundert hatten die Brauer keine Vorstellung, was bei der alkoholischen Gärung mit und durch die Hefe wirklich passierte. Als zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Niederländer die ersten Mikroskope entwickelten, konnten sie zumindest einen Blick auf diese mystische Substanz werfen. Der Naturforscher Anton van Leeuwenhoek gab 1674 einen Tropfen Bier unter sein Mikroskop und entdeckte die „Animacules“, kleinste pflanzenähnliche Organismen – für die Wissenschaft die Geburtsstunde der Mikrobiologie. Ein halbes Jahrhundert später beschrieb der deutsche Chemiker Justus von Liebig in seinen „Annalen der Pharmacie“ von 1839 die Hefe so:
„Mit Wasser zerteilte Bierhefe löst sich in unendlich kleine Kügelchen und Fäden, die eine Art Eiweiß sind, auf. Bringt man diese Kügelchen in Zuckerwasser, so sieht man, dass sie aus Eiern von Thieren bestehen; sie schwellen an, platzen, und es entwickeln sich daraus kleine Thieren, die sich mit einer unbegreiflichen Schnelligkeit auf die beispielloseste Weise vermehren. Sie besitzen eine Art Saugrüssel, Zähne und Augen sind nicht zu bemerken; man kann übrigens einen Magen, Darmkanal, den Anus, die Organe der Urinsecretion deutlich unterscheiden. Man sieht, dass diese Thiere den Zucker aus der Auflösung verschlucken, sehr deutlich sieht man ihn in den Magen gelangen. Augenblicklich wird er verdaut und diese Verdauung ist sogleich an der erfolgenden Ausleerung von Excrementen zu erkennen. Sie fressen Zucker, entleeren aus dem Darmkanal Weingeist, und aus den Harnorganen Kohlensäure. So sieht man also aus dem Anus dieser Tiere unaufhörlich eine spezifisch leichtere Flüssigkeit in die Höhe steigen und aus ihren enorm großen Genitalien spritzt in sehr kurzen Zwischenräumen ein Strom von Kohlensäure.“
Heute wissen wir, dass Hefen einzellige Pilze sind, die sowohl aerob (mit Sauerstoff) in Form der Zellatmung, als auch anaerob (ohne Sauerstoff, z. B. bei der Bier- und Brotherstellung) in Form der Gärung Energie gewinnen können. Organe, wie von Justus von Liebig beschrieben, haben die Pilze nicht, aber bei der Gärung entstehen Alkohol und Kohlensäure als Ausscheidungsprodukte. Je nach „Arbeitstemperatur“ unterscheiden wir zwei Hefestämme, die ober- und die untergärige Hefe. „Obergärig“ bedeutet, dass die Hefe bei warmen Temperaturen gärt (15-20 °C). Zudem bildet sie bei der Gärung Zellverbände, die durch die entstehende Kohlensäure auf der Oberfläche des Jungbieres schwimmen und eine Art Schaumteppich bilden. Ab dem 15. Jahrhundert begann sich allerdings eine neue Art von Hefe durchzusetzen, die „untergärige“ Hefe, die bei kälteren Temperaturen (4-9 °C) arbeitet. Deren Abkömmlinge bleiben nicht an der Mutterzelle haften, sondern lösen sich ab, wodurch die Hefe nicht von der Kohlensäure an die Oberfläche getrieben werden kann. Der große Vorteil dieses neuen Stammes war, dass die Gärung zwar langsamer, dafür aber wesentlich stabiler, infektionsfrei und reproduzierbarer ablief als die Gärung mit der obergärigen Hefe, die bei Zimmertemperatur ständig in der Gefahr war, von Fremdpilzen und Bakterien verunreinigt zu werden. Dafür benötigte die untergärige Hefe allerdings eine kalte Umgebung, die zu einer Zeit vor der Erfindung der künstlichen Kühlung nur sehr eingeschränkt verfügbar war. Doch die Mühe lohnte sich, denn das Ergebnis war für die damalige Zeit in jeder Hinsicht ein besseres Bier.
Für den Ursprung der untergärigen Hefe gibt es zwei Theorien. Die gängige erste Hypothese geht davon aus, dass im Gebiet zwischen Nürnberg und der Oberpfalz beim Vergären in den Lagerkellern die obergärige Hefe (Saccharomyces Cerevisiae) mit einem wilden Stamm eine Mutation bildete, die bei den herrschenden Temperaturen gut überleben und arbeiten konnte. In den 1990er Jahren untersuchten Forscher die untergärige (Saccharomyces Uvarum) Hefe und konnten bestätigen, dass es sich um eine Mutation aus zwei Hefestämmen handelte. Der eine war die bekannte obergärige Hefe, aber der andere war nirgendwo in Europa zu finden. Überhaupt fanden sich außerhalb von Brauereien auch keinerlei wilde Hefen, die mit dem Genom der untergärigen Hefe verwandt waren. Das fanden die Wissenschaftler zumindest ungewöhnlich und ließ sie zweifeln. Schließlich führte ein Zufallsfund zu einer zweiten Hypothese. Eine Forschergruppe aus den USA und Argentinien entdeckte in Patagonien auf Chilenischen Scheinbuchen einen wilden Hefestamm, dessen Genom zu 99,5% zu der anderen Hälfte der untergärigen Hefe passte – der „missing link“ war gefunden. Also müsste eine Holzlieferung oder zumindest ein Holzstück im 15. Jahrhundert den Hefestamm (Saccharomyces Eubayanus) von Südamerika nach Bayern gebracht haben. Ein Schreiner zimmerte daraus Einrichtungsgegenstände für eine Brauerei, in deren Kellern sich dann die beiden Hefestämme kreuzten.
Dieser – sehr stichhaltigen – genetischen Untersuchung steht allerdings in meinen Augen die Tatsache entgegen, dass in der 1474 erlassenen Brauordnung von Nabburg in der Oberpfalz neben der klassischen Gärung auch die „kalte, untergärige Gärführung“ genutzt werden sollte, um einen Vorrat an gutem Bier für den Sommer zu haben. Das bedeutet, dass es damals schon üblich war, untergärig zu brauen. Nachdem Kolumbus Amerika erst 1492 entdeckte und es auch dann sicher noch einige Zeit gedauert hat, bis Holz aus Patagonien nach Bayern kam, spricht zumindest die Geschichtswissenschaft gegen die neue Genhypothese.
Unabhängig von ihrem Ursprung startete die untergärige Hefe eine große Karriere. Brauergesellen verbreiteten die Kenntnis von der kalten Gärung und damit auch den Hefestamm über ihre Wanderschaft nach und nach in ganz Bayern. Überall dort, wo es geeignete Keller und Stollensysteme gab, beispielsweise in Kitzingen, Bamberg, Forchheim und Erlangen, stiegen die Brauer auf die neue Hefe um und konnten haltbare und besser schmeckende Biere sieden als die traditionell arbeitenden Kollegen. Das Sommerbrauverbot in der Folge des Bayerischen Reinheitsgebotes sorgte dafür, dass Braunbier nur in der kälteren Jahreszeit von Michaeli (29.9.) bis Georgi (23.4.) gebraut werden durfte und sich damit das untergärige Brauen im Herzogtum der Wittelsbacher endgültig durchsetzte. Denn nur untergärig gebraute Biere waren lange genug haltbar, um – im März eingebraut – den Sommer über getrunken werden zu können. Für Kühlung in den Kellern sorgte Eis, das die Brauer von gefrorenen Eisweihern oder Eisgalgen, die nachts mit Wasser übergossen wurden, ernteten. Wo keine Stollen verfügbar waren, bauten die Brauereien „Eistürme“ mit meterdicken Mauern, in denen das Eis sogar über mehrere Jahre lagern konnte. Zur Beginn des 19. Jahrhunderts konnten die bayerischen Brauereien dank der Entwicklung der Eisenbahn und des Wegfalls der Zollschranken, erst in Bayern (ab 1806), dann im Zollverein (ab 1834) und schließlich im Deutschen Reich (ab 1871) neue, große Absatzmärkte erschließen. Bayerische Auswanderer brachten um 1840 die untergärige Hefe nach Amerika, wo sie ebenfalls eine Revolution des Bierbrauens auslösen sollte.
Nun stellte sich die Frage, wie eine ganzjährige Produktion möglich gemacht werden konnte. Ein erster Schritt war die Erfindung des Würzekühlers durch den Franzosen Jean-Louis Baudelot aus Sedan, der kaltes Wasser durch eine horizontale Schlange von Kupferrohren von unten nach oben pumpte. Gegenläufig ließ er die heiße Würze von oben nach unten über die Außenseite der Kupferrohre fließen, was sie in kurzer Zeit auf die Gärtemperatur von 15 °C abkühlte. Zudem ermöglicht das Verfahren eine ausreichende Sauerstoffaufnahme durch die Würze und sparte gegenüber dem üblichen Abkühlen auf dem Kühlschiff bis zu acht Stunden Zeit ein. Zum entscheidenden Durchbruch verhalfen der neuen Hefe aber ein Österreicher, ein Bayer und ein Franke. Anton Dreher, Sproß einer Wiener Brauerfamilie, absolvierte um 1830 Hospitanzen in verschiedenen Münchner Brauereien, wo er auf Gabriel Sedlmayr, Besitzer der Spaten-Brauerei, traf. Die beiden entwickelten eine enge Freundschaft und auch geschäftliche Zusammenarbeit. Ihnen mißfiel, dass das untergärige Brauen wegen der zu hohen Temperaturen nicht ganzjährig möglich war. Also sponserten sie die Entwicklung der Kältemaschine von Carl von Linde. Um das Verfahren im großen Stil ausprobieren zu können, kaufte Dreher 1868 eine Brauerei im italienischsprachigen Teil des Habsburgerreiches, in Trieste. Im September 1876 lieferte Linde den Prototyp, der im folgenden Frühjahr in Betrieb ging und bis 1908 seinen Dienst tat. Die Triester Brauerei erlebte eine ungeahnte Blüte, und Dreher wie Sedlmayr rüsteten ihre anderen Brauereien mit der neuen Technologie aus.
Die Kältemaschine Lindes und ihre Nachfolger wurden zum Verkaufsschlager bei Brauereien in der gesamten Welt. Sie verhalfen auch dem 1842 entwickelten Bierstil Pils und damit hellen, untergärig gebrauten Lagerbieren, zum Durchbruch. Der von der Brauindustrie geförderten künstlichen Kühlung verdanken wir übrigens auch die Entwicklung des Kühlschrankes und damit den modernen Supermarkt. Und noch eine weitere Entwicklung dieser Zeit geht auf das Bier zurück: Die Pasteurisation. Louis Pasteur forschte im Auftrag einiger Brauereien in den 1860er Jahren nach der Antwort auf die Frage, warum Bier sauer wurde. Er entdeckte, dass ein kurzes Erhitzen auf 55 °C Bier und Wein haltbar machte. Dafür erhielt er auf der Weltausstellung 1867 in Paris den Großen Preis, und österreichische und deutsche Brauereien begannen, ihr Flaschenbier zu pasteurisieren. Angeregt durch Pasteurs Forschungen gelang es am 12. November 1883 dem dänischen Botaniker Emil Christian Hansen im Labor der Kopenhagener Carlsberg-Brauerei, erstmals einzelne Zellen untergäriger Hefe zu isolieren und zu vermehren. Damit konnten die Brauer gezielt reine Hefe geben und qualitativ hochwertiges Bier von gleichbleibendem Geschmack brauen – und die untergärige Hefe erhielt einen neuen Namen: Saccharomyces Carlsbergensis – heute zu finden in nahezu jeder Brauerei der Welt.
stehende, Bier des Landes erhalten – danke!
Autor: Markus Raupach
Fotograf, Journalist, Bier- und Edelbrandsommelier
Ausgezeichnet mit der Goldenen Bieridee 2015
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