Heute, im 21. Jahrhundert hat die Suche nach dem ursprünglichen Pilsgeschmack wieder viele Liebhaber gefunden, und so lohnt nicht nur die reale Reise in die Heimat dieses Bierstils, nämlich nach Pilsen, sondern auch die virtuelle, die wir in den folgenden Zeilen unternehmen werden. Im 18. und 19. Jahrhundert stand Europa im Zeichen der industriellen Revolution. Ausgehend von England erfassten immer weitere technische Neuerungen den Kontinent und sorgten für ein bis dato unbekanntes Tempo des Fortschreitens der technischen Entwicklung. Das gilt insbesondere auch für die Brauindustrie, für die die rauchfreie Trommelmälzerei, das Thermo- und Saccharometer sowie am Ende der Periode die Entwicklung der künstlichen Kühlung große Meilensteine darstellten. Zusammen mit Dampfmaschine, Eisenbahn, Wegfall der Zollschranken und Ausbau der Kanäle war ebenfalls die große Zeit des Bier-Exportes angebrochen. Auf einmal lohnte es sich, wesentlich mehr Bier herzustellen, als im direkten Umfeld der Brauereien zu verkaufen war. Und die neue Idee der Aktiengesellschaften bot ab der Mitte des 19. Jahrhunderts auch noch das nötige Kapital, um einerseits die ständigen technischen Neuerungen mitgehen und andererseits am stetigen Ausbau der Kapazitäten arbeiten zu können.
Das heutige Tschechien, damals Teil des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn, hatte ideale Voraussetzungen für die Entwicklung einer hochrangigen Bierkultur. Die zweireihigen Braugersten der Region gehörten – damals wie heute – zu den teuersten der Welt, und rund um Saaz wuchs der aromatischste Hopfen der damaligen Zeit. Über Jahrhunderte stand auf Diebstahl und/oder Export der Hopfenpflanzen die Todesstrafe! Doch mit den bis zum 19. Jahrhundert vor Ort üblichen Braumethoden, vor allem wegen der obergärigen Hefe, war einfach kein wirklich gutes Bier zu machen. Das erkannten die Pilsner Bürger, die es leid waren, das ständig qualitativ schwankende, schlecht haltbare Bier ihrer Brauereien zu trinken. Also ließen sie 1839 ein neues Brauhaus bauen und engagierten nach dessen Fertigstellung 1842 einen Braumeister aus Vilshofen in Bayern, Josef Groll. Der hatte umfangreiche Erfahrung mit dem Brauen untergäriger Biere und sollte sein Können nun in Pilsen beweisen. Einer Sage nach soll ein bayerischer Mönch zur selben Zeit einen Topf mit untergäriger Hefe in die Stadt geschmuggelt haben – wahrscheinlicher ist aber, dass über den Wiener Brauer Anton Dreher die bayerische Hefe ihren Weg nach Pilsen fand. Wie auch immer, so waren jedenfalls alle Zutaten für ein neues Bier vorhanden…
Denn die Kombination aus den feinen vorhandenen Rohstoffen und dem einzigartigen Wasser der Region bildete die Grundlage für den Erfolg von Josef Groll mit dem ersten gelungenen Sud am 5. Oktober 1842. Das Brauwasser, extrem weich, ermöglichte ein helles Bier mit hoher Hopfengabe, dazu noch untergärig und damit gut lagerfähig. Das war bis dato einzigartig auf der Welt. Dennoch war das Ur-Pilsener kein so helles Bier, wie wir es heute gewohnt sind. Denn das – in Pilsen immer noch verwendete – Dreimaischverfahren mit Dekoktion sorgte dafür, dass mehr Farbstoffe aus dem Malz gelöst wurden als bei den mittlerweile üblichen Methoden.
Die Pilsener waren begeistert von ihrem neuen Bier – ebenso wie die Gäste der Stadt und die ersten Kunden, die den Gerstensaft als Exportware kaufen konnten. Die Pilsener Brauerei expandierte immer weiter und hatte schließlich sogar einen eigenen Bahnanschluss, über den von Eis umhüllte Bierfässer ihre Reise nach ganz Europa antraten. So verbreitete sich der neue Bierstil schnell über den ganzen Kontinent. Anfangs vor allem dort, wo es ähnliche Wasserverhältnisse gab – im nordöstlichen Franken, Sachsen und Thüringen und schließlich an den Küstenstädten von Stralsund über Flensburg bis nach Bremen und Jever, wo es dank uralter unterirdischer Reservoirs ebenfalls sehr weiches Wasser gibt. Doch auch dort, wo es nicht hergestellt werden konnte, erfreute sich das Bier Pilsener Brauart größter Beliebtheit, so inspirierte es die Dortmunder Brauereien zu ihrem hellen (Export-) Bier und die Münchner Brauereien zum klassischen Hellen, wie bereits angesprochen. Skandinavien und die Niederlande waren die nächsten Stationen, bis das Pilsener schließlich auch die USA erreichte und dort das Ende der Vorherrschaft der englischen Bierstile besiegelte.
Auf diesem Weg wurde das Pils-Bier immer heller, denn die Brauer gingen zur zweifachen oder gar einfachen Dekoktion über, was weniger Farbstoffe aus dem Malz löst. Zudem kamen norddeutsche Brauer auf die Idee, der Maische Spitzmalz hinzuzufügen. Dies ist nur minimal dem Vermälzungsprozess unterzogen und sorgt für eine hellere Farbe und einen besonders intensiven Schaum auf dem Bier. Außerhalb des Geltungsbereiches des Reinheitsgebotes setzte sich die Zugabe von Reis und Mais als billigem Ersatz für einen Teil des Malzes durch, was das Bier nochmals heller machte. Das Bier wurde jedoch nicht nur heller, sondern auch für ungewohnte Gaumen „runder“, was bedeutete, dass die Brauereien die Hopfengabe immer weiter nach unten schraubten. In Süddeutschland ist oft kaum mehr ein Unterschied zwischen einem Hellen und einem Pils wahrzunehmen. Am Ende dieser Entwicklung standen die bereits erwähnten „near water“ Biere aus den USA, die nur noch leicht dunkler als Wasser und mit einem leichten Malzaroma beschrieben werden. Doch mittlerweile hat die Craft Beer Revolution auch die alten untergärigen Bierstile erfasst, und die meisten neuen Brauereien der USA haben bereits ein Pilsener im Angebot, das den Vergleich mit dem böhmischen Original nicht scheuen muss.
Mittlerweile lassen sich fünf verschiedene Pilsener-Kategorien unterscheiden:
Autor: Markus Raupach
Fotograf, Journalist, Bier- und Edelbrandsommelier
Ausgezeichnet mit der Goldenen Bieridee 2015
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